Freitag, 11. Mai 2012

Listen to the rain




Ira war eine junge Frau aus gutem Hause. Sie wohnte in einer kleinen Wohnung mitten in der Stadt und doch abseits des Geschehens. Sie hatte noch die meiste Zeit ihres Lebens vor sich, den spaßigsten Teil wahrscheinlich schon hinter sich.
Morgens ging sie im Anzug aus dem Haus, manchmal in einem Kleid oder Rock. Aber meistens trug sie eine Hose und eine Jacke dazu. Sie machte jeden Morgen einen Halt beim Bäcker und kaufte eine Zimtschnecke, stieg später in die Straßenbahn ein und aß das Stück Kuchen. Manchmal traf sie einen Mann. Sie sprachen nie miteinander. Er setzte sich lediglich neben sie, obwohl er auch irgendwo anders in der Bahn hätte sitzen können.
Obwohl sie sich nicht kannten, hatte Ira das Gefühl, alles über ihn zu wissen. Sie glaubte nicht, dass zu Hause eine Frau auf ihn wartete. Er sah nicht ordentlich aus. Nicht so wie sie. Er wirkte unorganisiert, verschlafen, so wie die anderen Fahrgäste auch.
Manchmal schenkte sie ihm ein Lächeln und er erwiderte es, wenn er sich setzte. Sie stiegen an derselben Haltestelle aus und liefen ein Stück weit nebeneinander, bis sie an einer Ecke rechts den Weg verließ, während er der Straße weiter folgte. Oft hatte sie überlegt, ihm einfach zu folgen und zu sehen, wohin er ging. Aber jedes Mal überkam sie die Furcht und sie verlor ihn aus den Augen.
Am Nachmittag stieg sie wieder in die Bahn und fuhr zurück, bis zur Haltestelle bei dem Bäcker, wo sie morgens die Zimtschnecken kaufte. Gelegentlich stieg sie schon einige Haltestellen früher aus, um das Stück zu Fuß zu gehen. Sie mochte es, im Sommer bei Regen durch die warmen Straßen zu laufen. Wenn die Wege vom Regen dampften und alles nach Sommer roch. Manchmal schlenderte sie über den Markt und kaufte ein Pfund Äpfel oder Trauben. Dann lächelte sie die Verkäufer an und rundete den Preis auf. Sie mochte das Gefühl, ein klein wenig Glück in die Welt gebracht zu haben.
An diesem Morgen stand sie später auf als sonst. Sie fasste sich an die Stirn und setzte sich auf. Vielleicht war das gestern ein wenig zu viel gewesen.. dachte sie. Langsam ließ sie ihre Füße in ihre Pantoffeln gleiten und stand auf. Dann öffnete sie das Fenster und sog die kühle Luft tief in sich ein. Sie hatte den perfekten Blick auf die Kirche. Die Kirche, in der sie damals in dem weißen Kleid stand und ihr vor Freude die Tränen über die Wangen liefen. Dann küsste er sie und streichelte ihr Gesicht und flüsterte »So wunderschön du auch bist, lass die Tränen Tränen sein. Heute ist unser Tag.« und dann hatte er sie angelächelt und erneut geküsst und alle Leute klatschten und freuten sich. Ihre Mutter hatte auch geweint. Sie war stolz auf ihr kleines Mädchen. Als Mutter ist man das wahrscheinlich immer.
Jetzt stand sie in ihrem überschaubaren Zimmer mit dem Bett, dem Schrank und einem Blickfang von Tisch. Die Einrichtung war schlicht, aber dennoch herzzerreißend schön.
Sie schaute von der Kirche auf zu den Wolken. Die Sonne würde heute wohl nicht mehr durch das Grau dringen können, aber sie wollte jetzt gar keine Sonne haben. Die Dunkelheit, einen Kaffee und ihr Bett. Das reichte ihr schon aus. 
Sie zog ihren Mantel über und ging einen Raum weiter, den sie liebevoll ihr „Kleines Atelier“ nannte. Hier standen viele Bilder, die sie selbst gemalt hatte. Einige mit beinahe fotografischer Genauigkeit, andere mit künstlerischem Abstraktum. Manche Bilder hingen an Wänden, andere standen auf Staffeleien und wieder andere standen in einer Ecke des Raumes.
Sie malte gerne, oft stundenlang und dann stellte sie das Bild doch nur zu denen, die mit größter Wahrscheinlichkeit auf dem Müll landen würden. Nur sie allein entschied, welches Bild gut genug war, um an einer Wand hängen zu dürfen. Das eine oder andere Bild verschenkte sie, die restlichen hängte sie in der kleinen gemütlichen Wohnung auf. Irgendwann würde sie umziehen müssen, damit die Bilder alle ihren Platz hatten.
Sie riss beide Fenster auf und strich vorsichtig über ein Bild mit einem roten Heißluftballon. Sie gähnte einmal und ging in die Küche. Ihre Füße schlurften auf dem Parkett und verursachten ein unangenehmes Geräusch dabei. Sie legte die Hand leicht gegen die Tür und drückte sie auf. Ihr schlug der warme Geruch von frischem Kaffee entgegen. Aus einem Schrank nahm sie sich eine kleine Tasse. Dann nahm sie die halbvolle Kanne und goss sich etwas in die Tasse ein. Mitsamt der Tasse schlurfte sie zu dem runden Esstisch. Als sie sich setzte, stöhnte sie einmal auf und führte die Tasse zum Mund.
»Wo warst du letzte Nacht?« wurde sie von ihrer Mutter gefragt, die bereits mit einem Teller und einer halbvollen Kaffeetasse an dem Tisch saß.
»Ich wüsste nicht, was dich das etwas angeht.« antwortete Ira schnell patzig. Sie mochte ihre Mutter nicht sonderlich und sie wusste, dass es umgekehrt nicht anders war. Nur fragte sie sich immer öfter, warum ihre Mutter überhaupt noch bei ihr wohnte.
»Was mich das angeht? Eine ganze Menge. Wer soll auf dich aufpassen, wenn ich es nicht tue?«
»Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen!«
»Das sieht für mich aber ganz anders aus, Ira!« Ira wusste nichts darauf zu antworten. Sie hatte aber auch keine Lust, sich schon wieder mit ihrer Mutter zu streiten. Sie hielt ihre Mutter in letzter Zeit für total verrückt. Gelegentlich überprüfte Ira, ob ihre Mutter auch ihre Tabletten nahm. Aber die Döschen entsprachen immer der Füllung, wie sie sollten. Am liebsten würde sie ihre Mutter rausschmeißen, aber das konnte sie ihr nicht antun. Sie hätte ein schlechtes Gewissen dabei gehabt und Ira war sich sicher, dass ihre Mutter bald von selbst gehen würde.
»Wo warst du letzte Nacht?« wiederholte sie ihre Frage. In ihrer Stimme schwang ein Schwall Wut und Vorwurf mit.
»Ich war was trinken.«
»Was hast du getrunken? Wie viel?«
»Was weiß ich? Ein wenig davon, ein Schuss davon. Welchen Unterschied macht es, ob ich sage drei Martini oder sechs Wodka?« Schrie Ira und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, während sie aufstand. »Ich lasse mich von dir nicht mehr wie ein kleines Kind herumkommandieren. Das hier ist meine Wohnung. Mutter, ich liebe dich, aber ich hasse dich dafür. Denn du machst mir mein Leben zur Hölle.« Bevor sie ging flog ihre Hand einmal über den Tisch und Zeitungen und ihre noch fast volle Tasse landeten auf dem Boden. Die schöne schlichte weiße Tasse zerberstete in hunderte kleiner Teile und der Kaffee sammelte sich in einer Lache auf dem Parkett. Ira verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, so dass sie mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Ihre Mutter begann leise zu weinen und legte den Kopf in ihre Hände.
Ira setzte sich auf ihr Bett und eine Träne rollte über ihre Wange. Sie wünschte sich, das alles niemals gesagt zu haben. Sie wollte zurück zu ihrer Mutter, wollte sie in den Arm nehmen und sich entschuldigen. Aber das konnte sie nicht.
Sie roch es immer noch. Auch nach so vielen Jahren war er nicht verschwunden. Sein Geruch, der in der ganzen Wohnung in der Luft lag. Er kam ihr entgegen, bei jedem Buch, das sie aufschlug und bei jedem Schrank, den sie öffnete. Sie roch ihn überall und das war das schlimmste an ihrem unauffälligen Leben. Die Gedanken und die Trauer, die sie jeden Tag aufs Neue verfolgten und die sie jeden Tag erneut provozierte, nur um die Gewissheit zu haben, dass er noch nicht ganz weg war. Noch nicht ganz verloren. Und jetzt erinnerte sie sich wieder, warum sie ihre Mutter so sehr liebte. Weil sie damals in der Kirche für sie geweint hatte und bei ihr war, als er nicht mehr wieder kam. Als sie die Tränen nicht Tränen hatte bleiben lassen können und sich allein in der Wohnung gefürchtet hatte. Sie hatte ihre Mutter dafür geliebt, dass sie für sie da war. Und Ira wusste, dass sie es die ganze Zeit über auch getan hatte. Sie hatte sie immer geliebt und sie tat es nun in diesem Moment auch, dessen war sie sich jetzt bewusst. Und dann stand sie auf von ihrem Bett, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging zurück in die Küche. Hockte sich neben ihre Mutter, die die Scherben aufsammelte und umarmte sie. Und dann flüsterte sie »Ich liebe dich, Mama.« Und beide wussten, es kam von Herzen.

4 Kommentare:

  1. Aww, wie goldig das is <3. Der letzte Satz is echt zum dahinschmelzen. Allerdings finde ich, dass du das ganze irgendwie besser hättest beschreiben sollen. Aber wer weiß, vielleicht wär's dann ja zu lange geworden :c

    AntwortenLöschen
  2. Ein richtig schöner Text. :}
    Und.. vielleicht liegt das daran, dass ich echt sensibel bin, aber dein Text hat mich so berührt, dass ich weinen musste.
    Du hast wirklich Talent dafür, zu Schreiben!
    Also lass dieses Talent niemals los, denn Talente sind dazu da, zu zeigen, wer man ist.

    AntwortenLöschen