Donnerstag, 7. Juni 2012

Purpurroter Tropfen




Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden.
Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta:
Die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab
und tippt bei drei gegen die Zähne.
Lo. Li. Ta.

Diese einfachen fünf Zeilen in dem schnöden Buch mit dem roten Einband faszinierten mich. Ich hatte das Buch durch Zufall in der Bibliothek entdeckt. Der Stil des Autors fesselte mich in der ersten Sekunde, beim ersten Wort, beim ersten Satz konnte ich es nicht mehr aus den Händen legen. Es war etwas ganz anderes, als bei guten Büchern, die ich kannte. Oft überragte der Inhalt und die Sprache passte lediglich. Hier war es perfekt.
Das Buch lag aufgeschlagen auf meinem Schoß. Immer und immer wieder las ich diese fünf Zeilen und die zwei Absätze die folgten. Ich legte meinen Finger auf die Seite und zählte die Zeilen. Zweiundzwanzig. Die Wörter. Einhundertundvierundfünfzig. Ich las die Worte in Gedanken. Leise und laut. Manchmal verebbte meine Stimme und brach mitten im Wort ab.
Ich führte ein Glas mit Rotwein an meine Lippen und nahm einen Schluck des purpurroten Alkohols. Purpurrot, genauso wie der Einband von Lolita.
Immer wieder zählte ich die Zeilen und die Wörter. Immer wieder las ich den Text. Es blieben immer gleichviele Zeilen. Zweiundzwanzig. Dieselbe Anzahl von Worten. Einhundertundvierundfünfzig. Es blieb so, keine Veränderung. Lediglich das Flackern der schwachen Lampe. Gelegentlich füllte ich mir Wein nach, aber die Situation blieb dieselbe. Ich saß in meinem alten Sessel, trank Rotwein und zählte die Zeilen und die Worte des Textes. Zweiundzwanzig. Einhundertundvierundfünfzig. Ich atmete. Ich blinzelte. Mein Herz pumpte Blut durch meinen Körper. Ich saß ganz ruhig da. Ich blätterte nicht die Seite um, obwohl ich den Text schon beinahe auswendig konnte. Ich wollte nicht erfahren, wie es weiter ging. Ich wollte keine Veränderung. Ich hasste sie. So war das schon immer gewesen. Ich hasste sie nicht nur, ich hatte enorme Angst davor. Wenn ich mich mit dir unterhielt, dann war es immer gleich. Ein gleichgültiges hallo, die Frage nach dem Wohlbefinden, die Frage nach dem, was man gerade machte und dann begann das große Schweigen. Mal hierzu und dazu noch ein Kommentar, aber im Grunde doch alles ziemlich schnöde. Es machte mich glücklich und traurig zugleich, dass wir uns nichts zu sagen hatten. Damals wusste ich nicht, welche Emotion stärker gewesen war. Aber es war okay. Und wenn es nicht in Ordnung war, dann war es mir eigentlich auch egal. Dinge, über die ich nicht reden wollte, oft auch gar nicht konnte, waren mir dann egal. Obwohl das falsch ausgedrückt ist. Ich war der Meinung, es könnte mir egal sein, aber innerlich hat es mich zerfressen. Ich wollte nur, dass es so blieb, wie es war. Und damit hatte ich alles verändert. Alles kaputt gemacht. Ich wollte nur, dass es so war wie früher, in den ersten Tagen, Wochen, Monaten. Ich wollte die Unbefangenheit, den Leichtsinn, den Gesprächsstoff zurück. Und das, was noch davon übrig war, wollte ich behalten. Für dich und für mich.
Ein roter Tropfen fiel auf die Seite. Er fraß sich durch das Papier und verschlang die Buchstaben. Wie gebannt starrte ich auf den Fleck. Und auf Schlag, als hätte mich jemand geohrfeigt, änderte sich so ziemlich alles.
Es war wie das, was du gesagt hattest, ich musste mich ändern. Ich konnte nicht erwarten, dass alles so blieb, wie es war. Das hätte nicht funktionieren können. Ich wollte kein Mitleid für meine kranke Psyche und meine elendige Kindheit haben, aber es war ein gutes Gefühl gewesen, zu wissen… Ja, zu wissen, dass andere sich um einen kümmerten.
Ich hatte deine Worte vor mir gesehen, sie immer und immer wieder gelesen und geweint. Ich hatte sie so laut und deutlich gehört, als hättest du vor mir gestanden und mich angeschrien. Wie ein gefühlsloser Schlag ins Gesicht und ein zerreißender Tritt in meine zerbrechliche Seele. Nur um mich endlich wach zu rütteln.
Ich hatte gewusst, dass du Recht hattest. Ja, natürlich. Aber in diesem Moment, wo der purpurne Wein dem Einband des Buches auf einem Mal so nah war und die Wörter in sich aufnahm, die mir gehörten, da verstand ich es. Dieser Tropfen hatte den Anstoß gegeben. Den Anstoß für ein Leben mit einem Lächeln.
Ich klappte das Buch zu und schmiss es auf den Boden. Ich nahm die halbvolle Weinflasche und lief mit ihr in die Küche. Der Wein lief die Spüle hinunter und die restlichen Flaschen, die ich im Weinregal zu liegen hatte, stellte ich in die Kammer hinter einen großen Karton. Vielleicht könnte ich sie an Weihnachten verschenken. In den nächsten Tagen würde ich eine neue Birne für die Lampe kaufen, dann bräuchte ich mich nicht mehr daran aufzuregen, so wie ich es immer getan hatte.
Ich nahm eine Flasche Wasser, setzte mich auf den Boden und lehnte mich an die Wand. Ich hob Lolita auf und strich mit dem Finger zärtlich über den Einband. Dann öffnete ich vorsichtig das Buch und blätterte bis zu dem Fleck. Und dann las ich.

Hier, meine Damen und Herren Geschworenen,
Beweisstück Nummer eins: das, was die Seraphim neideten,
die schlecht unterrichteten, edelbeschwingtem Seraphim.
Sehen Sie dies Dorngeflecht.

Ich sah noch einmal zu dem roten Fleck, dachte an deine Worte und dann blätterte ich um. Auf eine neue Seite. Zu einem neuen Kapitel in diesem Buch und in meinem Leben.

5 Kommentare:

  1. Sehr schön, Herzchen. Ich mag sie. Und ich habe dich lieb, aber dass weißt du. ♥

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  2. Hoppla^^ Das war das Googlekonto meiner Schwester^^ :'D Malwieder like Emi ._. ♥

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  3. dein blog ist wunderschön. wirklich.

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  4. Einfach ein wunderbarer Text, ich lese ihn gleich zum 15mal. ♥

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  5. Der Text ist wundervoll.

    http://spruso.blogspot.com/

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