Samstag, 4. August 2012

Take a look through my eyes



Lieber Leo,

diese Pause fällt mir schwer, obwohl ich sie zeitweise genieße. Es sind nur wenige Tage des Schweigens, in denen wir so sehr viel mehr sagen, als sonst. Obwohl ich dir gegenüber kaum schweige. In Gedanken rede ich die ganze Zeit mit dir und überlege, was du mir sagen würdest.
Ich sage dir, wann ich duschen gehe, mit wem ich telefoniert habe und worüber wir geredet haben. Ich zeige dir die Kleidung, die ich tragen werde und hinterlasse kleine, kurze Notizen am Kühlschrank, in der Hoffnung, du wirst sie lesen. In der Hoffnung, du bist, wenn ich zurückkomme, wieder da, als wärst du nie weg gewesen, lieber Leo.
Ich habe deine Stimme im Ohr. Sie ist immer bei mir, wenn ich ausgehe oder abends im Bett liege. Sie ist da, wenn ich alte E-Mails lese und die Bilder anschaue und mir wünsche, es wäre wie früher. Wenn ich mich nach alten Zeiten sehne. Aber es sind alte Zeiten, das sagt schon der Name. Und alte Zeiten sind alt und kommen nicht wieder. Nicht so, wie sie einmal waren, denn dann kommen sie einem falsch und erzwungen und eingestaubt vor. Alte Zeiten werden niemals neue Zeiten, das ist schade. Ja, das ist es.
Wenn ich im Bett liege und durch das offene Fenster die Grillen zirpen höre, die Vögel singen und die Blätter der Bäume im sanften Wind tanzen, dann denke ich an dich, lieber Leo. Dann frage ich mich, ob du auch an mich denkst, wenn du diese Geräusche hörst.
Lieber Leo, die Pause ist grausam und schrecklich. In manchen Momenten kann ich mich beruhigen und mir einreden, dass es alles nicht so schlimm ist, wie es scheint, aber sobald mir wieder in den Sinn kommt, wie es einmal war, in diesen alten Zeiten, dann kommen mir manchmal die Tränen.
Mir liegt der Duft deiner Haut und deiner Wäsche in der Nase, wie der Klang deiner Stimme im Ohr. Er ist immer und überall da, dieser liebliche Duft, lieber Leo. Er macht das Vergessen unmöglich. Ich bitte dich, mir zu sagen, ich solle ihn einfach begraben, aus meinem Gedächtnis streichen. Ich solle einfach nicht mehr daran denken, an dich denken. Nur damit ich sagen kann »Das kann ich nicht!«
Ich denke oft an dich. Eigentlich immer. Morgens, mittags, abends, jeweils davor und danach, und zwischendurch. Ich denke immer an dich.
Gelegentlich träume ich von dir, lieber Leo. Dann liege ich in deinen Armen und du küsst mich. Nur so, wie du es immer getan hast. Sanft am Hals, vereinzelt auf meine Lippen. Deine Lippen auf meinen.
In diesen Träumen ist nie mehr passiert. Nie mehr, als sanfte, zärtliche Küsse und deine Arme um meinen Körper. So liegen wir die ganze Zeit, die ganze Nacht, den ganzen Tag und niemand kann uns stören. In meinen Träumen spüre ich dich so deutlich, als lägest du direkt neben mir. Dann fährt mein Finger zärtlich deine nackte Haut entlang, hoch und runter. Immer wieder und wieder, bis ich in deinen Armen einschlafe und mich mit dir zusammen im Traum beobachte. Und dann bist du es, der seinen Finger auf der warmen Haut des anderen Kreise zeichnen lässt.
In diesen Träumen ist nie mehr als das passiert, was ich dir gerade gesagt habe. Sie genügen mir, diese Träume von Küssen und Zärtlichkeit. Sie genügen mir für den Moment, in dem ich träume.
Ich habe es nie beabsichtigt, mir mehr vorzustellen. Ich habe nie daran gedacht, wie es wäre, wenn ich dich küsse, wenn wir uns langsam gegenseitig die Kleidung abstreifen und es mehr geschehen lassen. Das habe ich mir nie vorstellen wollen. Ich war nicht gierig danach, das bin ich auch heute noch nicht. Vielleicht werde ich irgendwann davon träumen, lieber Leo. Aber ich hoffe es nicht, denn nach jedem Traum von dir und mir, von deinen Armen um meinen, von deinen Küssen auf meiner Haut, nach jedem dieser wundervollen Träume, finde ich keine Ruhe mehr. Dann liegt mir wieder der Geruch deiner Haare und deiner warmen Haut in der Nase. Dann höre ich wieder tagelang deine Stimme und ich muss fühlen, dass du mir nur noch in meinen Gedanken nah bist, lieber Leo. Dass diese Träume niemals Wahrheit werden, so wie alte Zeiten niemals neue Zeiten werden können.
Lieber Leo, diese Pause tut mir gar nicht gut. Aber irgendwann, da fühlt man gar nichts mehr. Irgendwann ist da nur noch Leere, auf der kein Staub ansetzen kann, wie auf alten Fotos. Nur noch Leere und Schweigen. Irgendwann wird es ein richtiges Schweigen sein, dann wenn ich dir nicht mehr erzähle, dass ich jetzt duschen gehen werde und dabei an dich denken muss. Und dass ich danach im Bett noch stundenlang an dich denken werde, in der Hoffnung, nicht von dir zu träumen, damit mein »Irgendwann« nicht erst bald, sondern in naher Zukunft eintreten wird.
Ich vermisse dich, lieber Leo. Ich wünsche mir, dass du an mich denkst, dass du ab und zu an mich denkst und deinen Kindern später erzählst »Das war die liebe Emmi, die erste Liebe in meinem Leben.« Das wünsche ich mir, lieber Leo.

In Liebe,
deine Emmi

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