Samstag, 30. März 2013

Ans Meer




Ich ziehe an meiner Zigarette und drücke mit meinem Fuß auf das Gaspedal. Mit einhundertsiebzig Stundenkilometern fliege ich über die Autobahn und es fühlt sich unglaublich gut an. Ich fliege einfach davon, habe ich beschlossen. Ich werde keine Ausfahrt nehmen, bis ich am Meer bin.
Die Wälder rauschen an mir vorbei und die Klimaanlage wirbelt kalte Luft aus Alaska durch meinen alten Opel. Ja, kalt wie aus Alaska. Ich möchte auch einmal dorthin. In die eisigen Schneegebiete. Und dann baue ich den größten Schneemann der Welt. Und eine Frau baue ich ihm auch. Und Kinder und ein Haustier. Und dann durchfahre ich mit einem kleinen Ruderboot die ganzen Seen und angele, auch wenn ich keine Fische mag, und schlafe in einem Zelt. Und nebenbei mache ich ganz viele Fotos von Bären, den Fischen und Lichtern am Himmel und Bäumen und Wäldern und meiner Schneefamilie. Mein neues zu Hause und alles was ich sonst noch sehe, werde ich fotografieren. Und die Bilder werde ich mir alle an meine Zimmerwände kleben, wenn ich wieder zu Hause bin. In meinem richtigen zu Hause.
Ich setze den Blinker und überhole einen blauen Skoda. In ihm eine junge Frau und ein Mann. Vielleicht sind sie ein Liebespaar oder sogar verheiratet. Aber vielleicht kennen sie sich auch erst seit einigen Stunden, weil sie ihn an der Straße hat stehen sehen und ihn einlud sie ein Stück weit zu begleiten. Aber ganz vielleicht sind sie ja befreundet und noch mehr als das. Und möglicherweise wollen sie auch ans Meer.
Ich halte meine Zigarette erneut an meine Lippen, inhaliere kurz und schnippe die Asche in den Behälter. Dann drehe ich das Radio auf seine maximale Lautstärke und meine Gedanken versinken für einen Moment in dem gewaltigen Schwall.
Wir wollten auch einmal ans Meer, erinnerst du dich? Du hast gesagt, dass du mich liebst. Ja, zum ersten Mal hast du es gesagt und dann hast du mir versprochen mit mir ans Meer zu fahren. Du hast mich angesehen, mit deinen vollen braunen Augen, und hast deinen Finger auf meine Nasenspitze gelegt und langsam auf meinen Mund fahren lassen. Du hast leise gezischt, aber in einer liebevollen Art. So als wollte man ein kleines Kind beruhigen. Deine Wangen waren von einem kaum erkennbaren rosé eingenommen und als du deine Augen für einen Moment geschlossen hattest und in dem Raum eine Stille lag, die ich nicht zu beschreiben vermag, konnte ich deinen Herzschlag hören und er ging viel zu schnell und dein Atem viel zu flattrig. Du hattest diese markanten Züge in deinem Gesicht, aber gerade die waren es, die ich so sehr an dir liebte. Wenn ich dich eine Weile lang betrachtete, waren sie nicht mehr hart und streng, dann waren sie zart und lieblich. Dann warst du noch schöner als sonst und ich hätte dich stundenlang ansehen können.
Ich ziehe ein Foto von dir aus der Mittelkonsole und sehe es immer wieder an. Du hast dich auf den Boden gesetzt und malst. Du drückst die Farben einfach aus den Tuben und verteilst sie auf der Leinwand, als müsse das so. Ich sitze auf deinem Bett und beobachte dich. Ich fand es immer wieder faszinierend, wie du mit den Farben umgegangen bist. Am Ende sah es immer so perfekt aus, aber du fandest deine Bilder nie schön genug. Ich habe sie alle mitgenommen und aufgehängt und sie mit derselben Bewunderung angesehen, wie ich dich unzählige Male ansah. Ich hatte das Gefühl ein Stück von dir bei mir zu haben.
An jenem Tag haben wir nicht sehr viel gesprochen. Du hast einfach dagesessen und gemalt. Und ich sah dir stundenlang zu. Irgendwann hast du dich nicht mehr gerührt, dann bin ich aufgestanden und habe mich leise neben dich gesetzt, meinen Kopf an deine Schulter gelehnt und tief eingeatmet und noch viel tiefer wieder aus. Nach einer Welle des Schweigens hast du gesagt »Wenn wir uns einmal verlieren sollten, dann treffen wir uns am Meer. Und dann sehen wir den Wellen beim Brechen zu und beobachten wie die Vögel in den Urlaub fliegen. Und wenn ich einmal nicht mehr da bin. Dann fährst du allein ans Meer. Und dann werde ich dich beobachten, ich werde dich so ansehen, wie du mich immer ansiehst. Mit dieser unglaublichen Liebe, die du mir schenkst. Mit einem einzigen Blick. Und dann wirst du einfach im Sand sitzen und die Wellen und Vögel betrachten und ich werde bei dir sein.«
Ich atme ein letztes Mal den Rauch ein und drücke den Stummel in dem Aschebehälter aus. Ich schalte die Scheinwerfer ein und fliege über die Autobahn. Ich habe damals nicht genau verstanden, was du mir sagen wolltest. Ich habe es gehört und mir jedes einzelne dieser Worte eingeprägt und auswendig gelernt, wie ein Gedicht. Aber mit der Zeit ist es mir klar geworden. Man kann nicht ewig traurig sein. Man muss sein Glück wieder in die Hand nehmen und die Leere, die einen für so lange Zeit ausgefüllt hat, besiegen. Man  muss wieder rausgehen und die Leute sehen, die man früher auch getroffen hat. Und dann muss man sich ablenken und verarbeiten.
Ich schaue auf den Tacho und lächele. Draußen ist es dunkel und mein alter Opel und ich sind die einzigen Verbliebenen auf dieser Straße. Und wir sind auf dem Weg ans Meer, damit ich dich ein letztes Mal sehen kann.

5 Kommentare:

  1. Ich sage dir immer wieder, wie sehr ich deine Geschichten liebe. Sie haben etwas magisches und immer wenn ich sie lesen, entführst du mich. Danke <3

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  2. Deine Worte fesseln mich total, du schreibst so schön, unglaublich. <3

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  3. Wow, das ist unglaublich schön geschrieben! Du hast wirklich total Talent, ich bewundere dich!

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  4. Ich vermisse deine Texte so sehr.

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